Wie oft habe ich schon Gespräche geführt, in denen mein Gegenüber sich für ihre Tränen entschuldigte. Es war ihr unangenehm, sich so verletzlich zu zeigen – und vor allem unangenehm, die Gefühle zu spüren, die das Gespräch in ihr weckte. Verheilt geglaubte Wunden öffnen sich wieder, alte Verletzungen treten unerwartet hervor, und mit ihnen steigen all die negativen Gefühle auf, die wir nur ungern zulassen.
Diese Gefühle sind keine Störung, die es schnell zu beheben gilt, sondern hilfreiche Wegweiser auf unserem Lebenspfad. Wie aber gehen wir mit der Angst um, wirklich hinzuschauen und wahrzunehmen?
Immer positiv bleiben
Negative Gefühle sind oft mit Scham verbunden. Wenn wir sie zulassen, dann meist nur allein, wenn niemand zusieht. Vielleicht erlauben wir sie uns noch im engen privaten Umfeld, aber bestimmt nicht im beruflichen Kontext, wo Wut, Entrüstung oder Tränen kaum Platz haben. „Du bist so emotional“ ist dort eine häufige Reaktion. Ich habe diesen Satz oft gehört und daraufhin immer mehr versucht, mich zu verändern, meine Gefühle zu unterdrücken, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, und zu glauben, dass sich Gefühle mit einem Lächeln einfach auflösen lassen.
Vielleicht kommen dir auch folgende Sätze bekannt vor:
- Lass dich nicht unterkriegen.
- Halte dich nicht mit dem Negativen auf.
- Fokussiere dich immer auf das Positive.
- Einfach weitermachen, das wird schon.
Obwohl diese gut gemeinten Ratschläge punktuell hilfreich sein können, bergen sie die grosse Gefahr, dass du beginnst, nur noch positive Gefühle wahrnehmen zu wollen, denn negative Gefühle scheinen ja nicht erlaubt zu sein.
Ständige Selbstoptimierung
In einer Welt, die von Selbstoptimierung und der ständigen Suche nach Glück geprägt ist, fällt der Umgang mit Negativität schwer. Der Fokus liegt darauf, nicht stehen zu bleiben und sich nicht aufhalten zu lassen. Deshalb gibt es keinen Raum für alles, was das Vorankommen behindern könnte.
Negatives wird beiseitegeschoben – und damit auch alle Gefühle, die vermeintlich nicht sein dürfen. Der ständige Blick auf das Positive, damit du keine Chancen verpasst, verdrängt deine Fähigkeit, auch einmal innezuhalten und Unangenehmes zuzulassen. Einfach immer weiter – so lautet die Devise, und auf der Strecke bleibt mit der Zeit auch hier die Fähigkeit, sich selbst als Ganzes wahrzunehmen.
Negatives meiden
Damit das Weitermachen ohne Pause gelingt, müssen negative Gefühle in der Folge ignoriert und unterdrückt werden. Das kostet Energie, denn Gefühle verschwinden nicht einfach durch Ignorieren. Sie melden sich immer wieder in unterschiedlichen Formen – als kleine Zweifel, eine leise Stimme im Hinterkopf oder ein ungutes Kribbeln im Bauch. Diese subtilen Signale werden ständig weggedrückt, während der Blick auf das „Gute“ gelenkt wird.
Das funktioniert zu Anfang sehr gut, und die Signale können schnell und einfach weggedrückt werden. Mit der Zeit fordert diese Vermeidungsstrategie allerdings ihren Tribut. Zum einen bedeutet jedes Ignorieren, dass Kraft benötigt wird, um die Gefühle wegzudrücken. Zum anderen hörst du damit auf, deinen Körper und seine Hinweise wahrzunehmen. Du schottest Dich immer mehr von deinem Körper und deinen negativen Gefühlen ab. Folglich spürst du dich immer weniger. Da Gefühle jedoch nicht selektiv verdrängt werden können, führt dein Verdrängen dazu, dass du alle Gefühle – negativ wie positiv – weiter von dir weg schiebst, und es fällt dir nach und nach immer schwerer, die kleinen Signale deines Körpers zu spüren.
Diskrepanz entsteht
Dass du deine Gefühle nicht mehr ganz fühlst, kann sich auf unterschiedliche Arten zeigen:
- Du bist dir nicht mehr sicher, was Du gerade fühlst.
- Du hast Mühe, Worte für deine Gefühle zu finden.
- Du fragst dich, welche Gefühle du nach aussen zeigen sollst, und bist dir unsicher, welche emotionale Reaktion in der Situation angebracht ist.
- Vielleicht stellst du dir sogar die Frage, ob das, was du gerade wahrnimmst, deine eigenen Gefühle oder die Gefühle deines Gegenübers sind.
Langsam entsteht eine Diskrepanz zwischen dem, was du tatsächlich fühlen kannst, und dem, was du nach aussen spiegelst. Der Grund liegt darin, dass Gefühlsregungen Teil der sozialen Interaktion mit anderen sind. Nun, da du angefangen hast, deine Gefühle zu unterdrücken, bist du dir immer weniger im Klaren darüber, was du fühlst und was du ausdrücken sollst. Weil dein Umfeld aber Reaktionen von dir erwartet, beginnst du damit zu raten, was erwartet wird, und dich dann entsprechend zu verhalten. Du fängst an zu tun, als ob, weil dir die Fähigkeit abhandengekommen ist, wahrhaftig zu fühlen und deine Gefühle echt zu zeigen.
Orientierung nach aussen
Du hast deine Gefühle als Orientierungshilfe für dein Leben verloren. Deshalb schaust du jetzt immer mehr nach aussen auf das, was um dich herum geschieht und wie es den anderen geht. Du sammelst auf diese Weise Anhaltspunkte, wie du dich fühlen solltest. Die äusseren Informationen dienen dir neu als Referenz für deine eigene Gefühlslage.
Das Problem dabei: Deine Gefühle sind nicht einfach verschwunden. Vielmehr stauen sie sich immer weiter in dir an und werden grösser. Sie drängen immer vehementer darauf, gehört zu werden, und sie finden früher oder später einen Weg, wieder wahrgenommen zu werden. Dieser steigende innere Druck und deine Unsicherheit löst in der Folge deine Angst aus, genauer hinzuschauen.
Die Angst hinzusehen
Deine Furcht erscheint, weil du nicht weisst, was sich zeigen wird, wenn du endlich genauer hinsiehst und deine Gefühle zulässt. Dies wiederum animiert dein Gehirn dazu, sich Szenarien auszumalen, um deine Angst mithilfe konkreter Bilder zu kontrollieren. Diese Bilder sind allerdings nur in deinem Kopf. Ohne hinzusehen und deine Gefühle wahrhaftig zu benennen, erfährst du überhaupt nicht, ob deine Vorstellungen tatsächlich der Realität entsprechen.
Die Schwierigkeit mit diesen fabrizierten Erzählungen in deinem Gehirn ist, dass sie immer weiterwachsen. Wenn von einer Sache eine Vorstellung besteht, dann erledigt sich das Thema nicht einfach. Du stellst dir immer neue Szenarien vor, diese werden kontinuierlich ausgeschmückt und deine Angst wächst mit. Denn Bilder lösen Gefühle aus und Gefühle lösen weitere Bilder aus. Die Angst schaukelt beides hoch.
Zu Beginn war es nur ein Unwohlsein und du hast nicht hingesehen. Dann kamen die Zweifel. Danach die Ängste. Je länger du nicht hinsiehst, desto grösser wird deine Angst.
Und das ist auch logisch: Dein Unwohlsein will dich warnen. Wenn du dich nicht damit befasst, muss das Warnsignal grösser werden, damit du es bemerkst. Deine Gefühle und dein Gehirn heizen sich gegenseitig an. Die unangenehmen Gefühle produzieren unangenehme Bilder in deinem Kopf; die unangenehmen Bilder im Kopf wiederum geben dir weitere unangenehme Gefühle. Eine Wechselwirkung entsteht.
Vom Bewerten der Gefühle
Ein wichtiger Schritt zurück in dein Wahrnehmen der eigenen Gefühle ist, dir bewusst zu machen, wie du über Gefühle denkst. Sprichst du von Gefühlen auch als entweder negativ oder positiv?
Mach dir klar, dass hier bereits deine Bewertung mitschwingt.
Das Wort „negativ“ bedeutet Ablehnung, Verneinung und etwas Ungünstiges, das man weghaben will. Negativ ist für uns gleichbedeutend wie schlecht. Wenn von negativen Gefühlen die Rede ist, dann geht es im besten Fall um die dahinterliegende Motivation, die Gefühle zu verstehen und dann in etwas Positives zu wandeln. Im schlechtesten Fall geht es darum, sie wegzuschieben, krampfhaft lächelnd weiterzugehen und sich einzureden, dass es gar nicht schlimm ist und alles, was geschieht, so hat kommen müssen, damit man stärker wird (Spoiler: Das ist absoluter Nonsens).
Gefühle haben keine Wertung; sie sind nicht gut oder schlecht. Gefühle sind einfach da und sie gehören zu uns.
Deshalb schlage ich dir vor, die Begrifflichkeit zu ändern und konsequent nicht mehr von negativen und positiven, sondern von unangenehmen und angenehmen Gefühlen zu sprechen. Im Gegensatz zu „negativ“ suggeriert „unangenehm“ Unbehagen und Unerfreuliches. Es ist nicht mehr Ablehnung, sondern vielmehr etwas, das es einen Moment auszuhalten und zu spüren gilt.
Es darf auch mal unangenehm werden. Denn diese Gefühle gehören auch zu unserem Sein dazu, von Natur aus. Nur weil etwas unangenehm ist, heisst es nicht, dass es schlecht ist.
Beobachten statt werten
Ein Schlüssel, um angstfrei mit deinen Gefühlen umzugehen, liegt somit in deinen Worten. Sie sind mitbestimmend, wohin du deinen Fokus lenkst. Wenn du deine Worte mit Bedacht wählst, gehst du gleichzeitig sorgfältig mit deinen Gedanken um.
Deine Gedanken wiederum sind entscheidend für deine Wahrnehmung der Welt um dich, denn dein Gehirn glaubt die Bilder, die du hast. Diese werden durch deine Worte geschaffen. Bewertest du eine Situation, erscheint es für das Gehirn nicht als Interpretation, sondern als Realität selbst.
Eine andere Bewertung – oder eben das Herausnehmen von Bewertung – schafft eine andere Version der Realität. Dies erlaubt es dir, zu hinterfragen, neue Perspektiven einzunehmen, zu reflektieren und die Welt anders zu sehen. Worte sind wichtig, denn sie ermöglichen es, dass du andere Geschichten über dich und deine Erlebniswelt zu erzählen beginnst.
Die Angst davor hinzusehen, ist nicht dasselbe wie die Angst vor der Sache selbst. Es lohnt sich immer, sich direkt die Sache selbst anzuschauen, denn du erzählst dir damit eine andere Version von dir.
Ausstieg aus dem Kopf
Falls du bereits seit einiger Zeit deine Gefühle unterdrückst, um zu funktionieren, ist dir sehr wahrscheinlich bereits das Gespür für deinen Körper etwas abhandengekommen. Du verbringst viel Zeit in deinem Kopf und nicht in deinem Körper.
Da wir unser Denken aber nicht durch weiteres Denken kontrollieren und zähmen können, braucht es den Weg über deinen Körper, damit deine Gedanken zur Ruhe kommen können. Das ist schwierig, denn du spürst deinen Körper gerade nicht so gut.
Hier eine kleine Übung, die dir hilft, in deinen Körper zu kommen:
- Stelle dich gerade und locker hin.
- Bleibe in den Knien flexibel. Vielleicht magst du ein wenig auf- und abwippen in den Knien.
- Schwinge deine Arme im Rhythmus deines Wippens.
- Bleibe mit deiner Konzentration ganz bei deiner Bewegung und folge mental deinen Armen.
- Nimm wahr, was dein Körper macht.
Wie geht es dir jetzt?